Es kam beileibe nicht selten vor, dass Vishuni durch irgendeine Bagatelle verstimmt war. Doch so übellaunig wie heute, hatte man sie vermutlich noch nie gesehen. Ihr gesamtes Fell war aufgestellt, der Atem kam stoßweise und zischend aus dem leicht geöffneten Maul, dem immer wieder ein leises, bedrohliches Grollen entwich. Selbst ihr Gang erinnerte mehr an ein trotziges Stapfen, mit jedem Schritt gruben sich die Krallen wie Dolche in den Boden und rissen ganze Erdhäufchen heraus, die im schwungvollen Flug ihre Hinterbeine trafen und schließlich vom wilden Schlagen ihres kräftigen Schwanzes hinweggefegt wurden und links und rechts ihres Trampelpfades zum Liegen kamen.
Hätte sie sich bloß von Anfang an aus allem rausgehalten. Wäre weiter Einzelgängerin geblieben, hätte die Rettung der Welt anderen überlassen und würde sich irgendwo weit weg von hier ein neues Leben aufbauen. Doch dafür musste sie zuerst aus diesem verfluchten Wald rausfinden!
Ihre Gedanken verloren sich immer wieder in den letzten Tagen, auch wenn sie angestrengt versuchte, kein Detail um sie herum zu verpassen. Wäre doch gelacht, wenn sie nicht irgendwann dahinterkommen würde, was mit diesem Ort los war!
Es hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte, den blöden Rat zu finden, auch wenn Kailan ihr den Weg ausgiebig beschrieben hatte. Dort hatte man sie ganz schön lange warten lassen, beinahe so, als wolle man sie provozieren.
Erst auf deutliche Nachfrage und die Erwähnung, dass sie auf Kailans Empfehlung hergekommen war, erzählte man ihr, dass diese Widerstandsgruppe bereits einen Auftrag erhalten hatte und Vishuni momentan nicht gebraucht wurde. Trotzdem hatte Vishu sich bemüht, ihr Interesse zu bekunden und hatte so erfahren, worum es sich bei diesem Auftrag handelte.
Sie hatte sich sogleich auf den Weg gemacht, denn sie hatten ihr zumindest erlaubt, am Waldrand auf die anderen zu warten, doch Ungeduld und Unmut hatten sie natürlich binnen weniger Stunden hineingetrieben.
Und nun befand sie sich in diesem verfluchten blöden Wald und konnte nicht einmal mehr sagen, wie lange sie nun schon hier war. Sie stieß ein unwirsches Fauchen aus und blieb kurz stehen. War sie hier nicht schon gewesen? Mit einem kräftigen Satz stieß sie sich vom Boden ab und grub die Krallen in den massiven Stamm eines Baumes. Mit kraftvollen Bewegungen erklomm sie den Baum und ließ sich auf einem der kräftigeren unteren Äste nieder. Mit leicht geöffnetem Maul sah sie sich etwas schwer atmend um, doch das Laub war so dicht, dass sie kaum etwas erkennen konnte.
Mit einem Seufzen machte sie sich wieder an den Abstieg. Es war noch ein gutes Stück bis zum Boden, da fuhr auf einmal ein heftiger Wind durch ihr Fell gefolgt von einem lauten Brüllen, es war, als würde der gesamte Boden erbeben. Vishuni schrie überrascht auf und merkte erst, als der bebende Boden rasend schnell näherkam, dass sie den Halt am Stamm verloren hatte. Mit einem dumpfen Laut landete sie hart auf den Pfoten, die sofort bis zum Grund einsackten, auf dem die Berglöwin mit panisch geweiteten Augen und hilflos zurückgelegten Ohren reglos kauern blieb.
So schnell diese Naturgewalt gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden und Vishu pflückte langsam und immer noch mit wild pochendem Herzen die Krallen aus dem Boden. Schmerzerfüllt zuckte sie zusammen, als sie sich langsam aufrichtete und sah sich kurz gehetzt um. Doch alles sah aus wie immer, sie schien sich nicht in unmittelbarer Gefahr zu befinden. Sie schüttelte sich kurz und ignorierte das scharfe Brennen, welches ihr durch die Beine fuhr, bevor sie sich langsam wieder auf den Weg machte. Das Grollen hatte sie eingestellt und ihr Gang war vorsichtiger und etwas zaghafter geworden. Immer wieder blickte sie sich um, unter ihre Wut hatte sich nun eine gehörige Portion Unwohlsein gemischt.
Sie wusste nicht, wie lange sie weiter durch den Wald geirrt war, als sie plötzlich ein neues Geräusch vernahm, leise wie fernes Donnergrollen. Neugierig spitzte sie die Ohren und näherte sich dem neuen Eindruck, spürte irgendwann, dass die Luft ein wenig frischer wurde, sich neue Gerüche in die Umgebung mischten. Sie trat durch ein dichteres Geäst hindurch und erblickte vor sich eine riesige Schlucht. Staunend trat sie näher, bis kurz vor den Abhang und wagte einen Blick hinab in die Tiefe. Rasende Stromschnellen flogen tief unter ihr durch das Tal und Vishu folgte dem Wasser mit dem Blick stromaufwärts bis zu dem gigantischen Wasserfall. Mit weit geöffneten Augen nahm sie alles in sich auf, ließ den Blick durch die gesamte Schlucht tanzen, erklomm mit den Augen die steilen Felswände jenseits des Abgrundes – und stutzte plötzlich.
War das real? Ein umgestürzter Baum schien wie eine Brücke über die gesamte Schlucht zu ragen, beinahe einladend, herausfordernd. Und direkt neben dem Baum stand ein Bär und schien ihn gerade eingehend zu prüfen. Was war das wieder für ein Spiel, das dieser Ort mit ihr trieb?
Vishu stapfte näher, lief die Schlucht entlang auf den Baumstamm zu und konnte schon bald einen weiteren Bären, einen Vogel und einen Wolf ausmachen. Sie kniff die Augen zusammen und blieb einige Meter entfernt vom Baumstamm stehen. Ob die Kreaturen ihr antworten würden, wenn sie tatsächlich nur eine Art Täuschung waren?
Vishu stieß ein lautes Brüllen aus, um die Fremden auf sich aufmerksam zu machen.
Gespannt wartete sie ab, auf alles gefasst, womit dieser Wald sie noch ärgern wollte. Währenddessen ließ sie die Fremden nicht aus den Augen und beobachtete misstrauisch, was sie da taten.
[ Irrt durch den Wald | wird ebenfalls von dem lauten Beben überrascht | trifft auf die Schlucht, sieht den Baum und die anderen, die ihn gerade inspizieren | macht auf sich aufmerksam ]